Oktober 2050

Harpers Ferry, Die Zeit der Untoten

Der Wind dreht wieder. Immer wieder dreht dieser verdammte Wind. Es könnte mir bei meiner aktuellen Lage vom letzten Kampf egal sein, aber es ist mir nicht egal. Nicht bei dem, was da vor mir ist und was schon hinter mir liegt.
Ich lehne an einem Holzregal, welches schon bessere Tage gesehen hat. Es hat anscheinend mal Dosen und Tomatenmark enthalten, wenn man den Spuren Glauben schenken darf. Ich atme durch eine Atemschutzmaske. Ich atme wie jemand, der gerade von diesen Dingern angegriffen wurde.
Die Digitalanzeige der Maske zeigt einen Wert von siebzehn Prozent an. Es wird knapp. Siebzehn Prozent Filterung dieser toxischen Luft. Wenn sie anfangen zu schreien, kann ich diese verdammte Maske nicht abnehmen.
Ja, sie haben mich fast erwischt, aber abseits von diesem einenBiss heute Morgen, war heute ein sehr guter Tag. Wenn man in meiner Lage von einem guten Tag sprechen kann. Ich konnte aus dem ehemaligen Coffee Shop einen Espresso entwenden und mit dem abgestandenen Wasser, welches ich mit einem alten Gaskocher erhitze, einen Americano machen. Dazu musste ich das Wasser mit einem Filter reinigen und durchlaufen lassen. Ich musste das Testergebnis abwarten. Das Wasser läuft durch einen Teststreifen, der sich wahlweise grün – für Wasserqualität in Ordnung – oder rot färbt. Dann ist das Wasser kontaminiert und man wird zu einem dieser Dinger. Grün – ein Glück, dachte ich. Also funktionierte der Filter noch problemlos. Die Bezeichnung Wasser ist stark übertrieben, denn eigentlich war es Wasser aus einer Regenrinne. Es hat die letzten Tage geregnet, was gerade ein Segen ist. Wasser ist der Grund allen Übels. Seit 2045 verbindet man dieses Element nicht mehr mit etwas Positivem. Seit Monaten war das mein erster Kaffee. Ich habe schon fast vergessen, wie es ist Kaffee zu trinken und wie er schmeckt. Ich bin zwar nicht gläubig, aber dass ich mal wieder Kaffee getrunken habe, grenzt wirklich an ein Wunder. Ich habe inzwischen so viel vergessen. Stattdessen konzentriere ich mich nur darauf zu leben und vor allem zu überleben. Damit diese Dinger mich nicht riechen können, bin ich in diesen Store hier geflohen. Das war mal ein Kiosk mit ein paar Lebensmitteln zum Verkauf. Die Vorräte an Zigaretten sind schon leer geräumt und alles Brauchbare gehört längst der Vergangenheit an. Da dieser Kiosk fast im Zentrum von Harpers Ferry liegt, war es vermutlich eines der ersten begehrten Ziele dieser Stadt gewesen, nachdem das Ganze geschehen ist.
Ich mache euch nichts vor. Diese Situation ist mehr als nur schwierig oder drastisch. Sie ist eine verdammte Scheiße. Diese Dinger, die man inzwischen als Untote bezeichnet, sind schon sehr dumm. Sie folgen stumpf einem Weg und wenn man sich gut anstellt, kann man ihnen aus dem Weg gehen. Fast schon wie in einem Film. Aber ich schweife ab. Nachdem ich also meinen Americano fast fertig getrunken hatte und auf der Washington Street stand, kamen sie in Wellen mit je vier bis fünf Untoten und wollten anscheinend genau dahin, wo ich hin wollte: zum nächsten Supermarkt. Früher war das mal das Rabbit Hole, eine beliebte Kneipe. Ich musste meine Atemschutzmaske, die an meinem Rucksack hing, schnell aufsetzen, damit ich diesem toxischen Gift nicht ausgesetzt war. Immer wenn die Untoten Schreie oder Laute von sich geben, produzieren sie dieses Gift. Ganz in ihrer Nähe führt es unweigerlich dazu, dass man infiziert wird.
Einzeln sind sie keine große Hürde aber in einer Gruppe scheinen sie sich vernetzen zu können. Sie wittern anscheinend dann besser und können taktieren und sind in der Gruppe wesentlich schneller unterwegs. Wenn man hier von Intelligenz sprechen kann, dann ist das, was man dort sieht, vermutlich so eine Art Schwarmintelligenz. Meine goldene Regel bei Untoten ist folgende: sind sie alleine, sind sie zu schaffen. Sollten es mehr als zwei sein, nichts wie weg! Man muss immer auf der Hut sein und man muss immer seine Maske griffbereit haben. Es ist Herbst.
Besonders vorsichtig muss man sein, wenn die gelben Blätter auf der Straße liegen und es regnet. Diese Mischung aus Blättern und Nässe ergibt einen rutschigen Boden. Dann wird man ganz schnell zum leichten Opfer. Meine Bisswunde muss versorgt werden und ich muss dringend in diesen Supermarkt. Ich bin am Verhungern. Anscheinend ziehen sie die Washington Street weiter Richtung High Street, da sie mich nicht mehr riechen und sehen können. Es ist sehr praktisch, dass sie in Gruppen deutlich lauter sind als alleine. Ich stehe also langsam wieder auf und blicke am Regal vorbei und sehe die letzten drei Untoten die Straße entlang gehen Richtung Südosten. Der Supermarkt ist noch etwa zwei Kilometer entfernt. Ich trete aus dem Kiosk und dann sehe ich wieder, was das für eine verrückte, abgefuckte Welt ist. Viele Autos sind am Straßenrand kaputt, abgebrannt oder einfach ausgeraubt worden. Ausgeraubt sind auch alle Läden. Die Kleinstadthäuser, die meist nur aus Holz bestehen und für gewöhnlich hellblau oder weiß gestrichen sind, sind verwüstet und teilweise abgebrannt oder komplett vernichtet. Hier etwas zu finden, fünf Jahre nachdem die Untoten diese Welt überrannten, ist schon ein riesen Glücksfall. Besonderes Glück muss man haben, wenn man dann noch eine Waffe findet wie zu Beginn dieser Katastrophe. Das Einzige, was schwierig ist, ist Munition in ausreichender Menge zu finden. Ausgerechnet in einer Stadt, in der die zweite staatliche Waffenfabrik in den USA entstanden ist. Damals wie heute ist die Ironie nicht weit entfernt.
Ich nehme die Filtermaske ab, hänge diese wieder an meinen Rucksack und gehe die Straße weiter östlich. Ich sehe die alte Einkaufsmeile, mit den kleinen ausgeraubten Läden. Früher war dieser Ort sehr beschaulich und ich wohnte hier gern. Kleine Häuser, gelb gefärbte Bäume und eine freundliche Nachbarschaft zeichneten dieses kleine Fleckchen Erde aus. Inzwischen gibt es hier keine Beschaulichkeit oder Harmonie mehr. Der Strom ist schon Monate lang nicht mehr vorhanden, ganz zu schweigen von fließend Wasser oder einer warmen Heizung. Das mobile Internet ist teilweise nutzbar fällt aber meist aus. Wie selten man plötzlich ein Smartphone nutzt, wenn das Internet ausfällt und man den Akku schonen muss. Denn wenn es eins gibt, was an so einem Device nützlich ist, dann ist es die Lampen-Funktion in der Nacht, wenn der Akku der Taschenlampe mal wieder leer ist. Auch wenn man hier sehr vorsichtig sein sollte, denn vom Licht werden die Untoten angezogen.
Endlich ist der Supermarkt in Sichtweite. Ich erinnere mich daran, wie ich früher gerne dort einkaufen ging. Da war die Welt noch in Ordnung. Die Washington Street wirkt jetzt endlos bei dem Hunger, den ich habe. Ich erschrecke mich und zücke sofort meine Glock 19, weil ich denke, dass ein Untoter sich verlaufen hat und sich noch in einer zerstörten Garage rechts neben mir befindet. Es stellt sich heraus, dass es nur eine streunende grau-braune Katze ist. Sie hat vermutlich auch Hunger. Wie auch immer sie hier überlebt hat, denke ich. Ich sehe ihr nach.
Nach ein paar Metern bin ich endlich da. Ich hoffe, ich werde auf niemanden treffen. Die Tür ist offen und alle Scheiben eingeschlagen. Die ehemals grüne Fassade, die inzwischen das Zeitliche gesegnet hat wurde demoliert und zerstört. Es ragen noch einige Zaunpfosten vom Gebäude nebenan aus dem Boden. Anscheinend haben sich hier Überlebende Holzpflöcke gebaut, um wenigstens irgendwie gefeit zu sein für das, was auf sie wartet. Was sie unumgänglich jagt und töten will. Ich gehe durch die Tür, die noch etwas grünen Lack aufweist. Im Gebäude scheint das meiste schon geraubt worden zu sein. Ich setzte wieder meine Atemschutzmaske auf. Die Digitalanzeige zeigt jetzt eine eins und eine fünf an. Verdammt, es sind nur noch fünfzehn Prozent Schutz. Ich möchte aber ungern meinen Vorrat im Rucksack antasten bevor der Prozentwert nicht auf eine einstellige Zahl sinkt.
Ich habe hier in der Nähe einen kleinen Vorrat angelegt an Filtern und habe sie über Monate hinweg gesammelt und kontrolliert, ob sie dicht sind und einige Prozente aufweisen. Glücklicherweise habe ich so einige gefunden, die noch brauchbar waren und deren Solarpanel in Takt war. Nichts wäre schlimmer, als nicht sehen zu können, wie viel Filterkapazität noch vorhanden ist. Ich schleiche durch das knisternde Glas und hoffe, dass ich keine Untoten anlocke und sehe mich um. Da die linke Seite des Hauses komplett zerstört ist, kann ich den Außenbereich gegenüber sehen. Dort sind keine Untoten. Ich nutze den etwas längeren Gang, dem ich folge und es sieht fast hoffnungslos aus, dass ich noch zu was Essbarem gelange, bis ich in der hinteren Ecke eines Regals einige Riegel entdecke. Anscheinend mit viel Kalorien. Umso besser – je mehr Kalorien ich zu mir nehmen kann, desto weiter kann ich laufen oder rennen. Das ist extrem wichtig, wenn man alleine ist. Die meiste Zeit bin ich alleine unterwegs. Der Funkkontakt zu anderen Überlebenden ist auch wieder weg. Das ist von Tag zu Tag unterschiedlich. Ich setze meine Maske ab, die schon anfängt rot zu blinken. Da keine Untoten in Sicht sind, packe ich drei Riegel in meinen Rucksack und die anderen beiden Riegel esse ich.
Das Öffnen der Packung gestaltet sich schwieriger, als mein Hunger es zulassen will, aber meine Wunde hinterlässt einen ersten Eindruck, wie ernst die Lage zu sein scheint. Anscheinend ist sie tiefer als es mir lieb wäre. Nach ein paar Minuten der Herausforderung beim Öffnen der Packung, sind die beiden Riegel innerhalb weniger Minuten herunter geschlungen. Was für eine Wohltat. Nach elf Stunden ohne Nahrung endlich wieder Essbares zu finden.
Ich muss mich dringend um diese Bisswunde kümmern. Der Drug Store hier ganz in der Nähe ist schon seit Monaten leergefegt. Ich muss meinen Radius also erweitern. In Bethesda könnte ich fündig werden. Dort ist das NIH, das National Institute of Health. Das ist ein Institut für Gesundheit. Vermutlich wird es da Verbandkästen und Medikamente geben. Ich mache mich also auf den Weg, stehe auf und gehe Richtung Ausgang.
Hinter mir höre ich plötzlich das Geräusch, wenn man auf zerbrochenes Glas tritt. Das Geräusch ist eines dieser Geräusche, die man hundertmal am Tag hört. Besonders, wenn man auf der Hut sein muss vor den Untoten.
Ich nehme dieses Geräusch also war und will meine Maske nehmen und drehe mich rum bis ich den Lauf einer Schrotflinte auf meiner Wange spüre. Das kalte Eisen.
Eine junge Frau, die eben hinter und nun neben mir steht, sieht mich mit eiskaltem Blick an.
„Keine Bewegung oder es wird deine Letzte sein.“